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CARPE SOMNIUM
oder CATCH YOUR DREAM hatte ich, in Anlehnung an das CARPE
DIEM des Horaz, diese Expedition genannt. Damit hatte ich ausdrücken
wollen, daß es der Entschlossenheit und Tatkraft bedarf, sich der
Alltäglichkeit, dem Trott und den eingefahrenen Denkbahnen zu
entreißen. Dazu muß man aber zunächst einmal träumen,
sich das, was man tun will, erst einmal vorstellen, ausmalen, zutrauen, um
dann in einem längeren Prozeß die so konzipierte Realutopie in
die Realität zu überführen, ihr also einen Ort in der
Wirklichkeit zu geben. Wir hatten uns viel vorgenommen und folglich mit den
Vorbereitungen schon zu Anfang des Jahres 1993 begonnen. Lehrer wie
Schüler mußten wöchentlich eine Stunde von ihrer Freizeit
hergeben, in der wir uns in die Geographie und Geschichte der Schweiz und
des Aostatals einarbeiteten, uns Grundzüge des Italienischen
einprägten Wir bereiteten uns aber nicht nur geistig vor, sondern auch
körperlich. An manchen Wochenenden machten wir Tagestouren in der
Umgebung von Heidelberg, eigneten uns elementare Kletter- und
Sicherungstechniken an, denn wir wollten ja in der Schweiz und im Aostatal
bestimmte Strecken ablaufen, um uns in die Lage eines römischen
Infanteristen zu versetzen und dessen Anstrengungen bei seinen Märschen
über die Alpen nachzuvollziehen; dazu mußte unsere Kondition
ausreichen, und wir mußten auf alle Eventualitäten vorbereitet
sein.
Kaiseraugst bei Basel(Augusta Raurica) und Martigny im Rhônetal
(Ociodurum oder Forum Claudii Vallensium) bildeten die ersten Höhepunkte
unserer Reise O Der sehr frühe Aufbruch von Heidelberg gab uns die seltene
Gelegenheit, im Frühtau durchs noch menschenleere, erst langsam erwachende
Kaiseraugst zu schlendern und dabei die Erweiterungen der Grabungsgelände,
die wunderschönen neuen Anlagen des römischen Haustierparks, des
Lastkrans, des Tumulus, der Tempelrekonstruktion am Porum in aller Ruhe
anzuschauen. Bevor wir das von Rene Clavel gestiftete Museum im Römerhaus
betraten, inspizierten wir noch die römische Backstube, die
Restaurationsarbeiten am eingerüsteten Theater und vor allem die open-air-Ausstellung
von Skulpturen und Inschriften (Repliken natürlich!), unter denen sich
auch die Grabinschrift des Gründers von Augusta Raurica befindet, des
L.Munatius Plancus, der wahrscheinlich im Sommer 44 v. Chr. die colonia
gegründet hat.
Die Attraktion des Römermuseums an diesem Tag war ein Schmied, dem wir bei
seiner Arbeit an Blasebalg und Amboß zusehen und den wir zu Details
befragen konnten. Da er die alten Techniken anwandte, kam uns das vor wie ein
historisches Interview, das uns 2000 Jahre zurückversetzte. Für jeden
von uns gab es so viel zu schauen und zu erkunden, daß wir leicht den
ganzen Tag in Kaiseraugst verbracht hätten, hätte ich nicht zum
Aufbruch gedrängt. Martigny, die nächste Etappe vor dem Großen
St.Bernhard, empfing uns dann mit nachmittäglichem Glanz, der sogar das
restaurierte Mauerwerk des Amphitheaters und die Grundmauern des Forums am
Museum der Fondation Pierre Gianadda zum Leuchten brachte. Dort betrachteten
wir neben den Fundstücken besonders aufmerksam die große Wandkarte
mit dem römischen Straßennetz, an dem uns die Straße über
den Summus Poeninus magisch anzog. Wir versetzten uns mental in das riesige Dia
neben dem Ausgang, das die Trasse der in den Fels gehauenen
Römerstraße etwas oberhalb der Paßhöhe auf der
italienischen Seite zeigt. Dann aber hält uns nichts mehr in Martigny. Am
späten Nachmittag erstürmen wir die Paßhöhe des Grand
StOBernard (2473 m) und erklettern unverzüglich einen 500 Höhenmeter
weiter aufwärts gelegenen Aussichtspunkt, der uns eine weite Umschau vom
Mont Velan und Grand Combin im Norden zur Gruppe des Gran Paradiso im
Süden und weiter zum Dach Europas, zum Mont Blanc also, gewährt, den
wir unter den grauen Wolken aber nur ahnen können.
Der folgende Tag (18.09.) sieht unseren Einmarsch in Aosta (Augusta Praetoria
Salassiorum). Wir erobern die Hauptstadt der autonomen Region, der kleinsten
und reichsten von ganz Italien, mit den Augen. Dabei bewegen wir uns wie auf
einem Reißbrett, dessen Koordinaten uns von den römischen
Festungsarchitekten durch cardo und decumanus vorgegeben sind. Am
eindrucksvollsten begegnet uns die Antike in Form der monumentalen
herauspräparierten Fundamente der Stadtmauer und des linken Haupttores
unter dem archäologischen Museum an der Piazza Roncas. Die Führung
durch Signorina Efisia - das Italienisch übersetze ich - erschloß uns diese unterirdischen Geheimnisse aus der antiken und
mittelalterlichen Geschichte Aostas, die sonst kaum ein Tourist zu Gesicht
bekommt. Erst auf dieser Grundlage begingen wir dann die heutige Stadt, soweit
sie sich innerhalb des Mauergevierts von 724 x 572 m der antiken Gründung
hält. Den nachhaltigsten Eindruck empfingen wir vom römischen
Theater, das vor der grandiosen Kulisse der die Stadt umgebenden Berge, die
Aosta um 3000 m überragen, sich uns unauslöschlich an jenem
sonnendurchfluteten Nachmittag einprägte. Porta Praetoria, Augustusbogen,
der Ponte Romano jenseits des Buthierbaches, die Kathedrale am Forumsplatz mit
dem sich anschließenden Kryptoportikus und -als schöpferischer Ruhepunkt- der Kreuzgang von S.Orso mit seinen 40 verschiedenen Kapitellen aus dem 12.Jhd.
Nicht weniger satt an Eindrücken war der nächste Tag (19.09.),
führte er uns doch zum Ausgang des Aostalals bis nach Pont S.Martin, wo
eine römische Brücke des 1.Jhd.v.Chr. mit einer Spannweite von 36 m
den hier aus dem Gressoneytal herabstürzenden Wildbach Lyss
überquert. Nur wenige Kilometer taleinwärts in Richtung Aosta setzte
uns die 220 m lange von römischen Ingenieuren aus dem Berghang gesprengte
und herausgemeißelte Trasse der Römerstraße bei Donnas in
Verwunderung. Nicht genug damit, daß sie die senkrechte Wand der
Bergflanke glätteten und einen Meilenstein herausarbeiteten, zu allem
Uberfluß schufen sie auch noch einen für die Konstruktion der
Straße selbst unnötigen Bogen aus dem gewachsenen Fels, diese
Römer, den wir, immer auf der Suche nach einer Spielmöglichkeit, um
uns zu erproben, erklettern. Das aber waren nur die beiden ersten
Paukenschläge eines Tages, an dem wir uns nach Herzenslust sattsehen
konnten an dem Quartett der Burgen Bard - Issogne - Verres - Fenis. Bard, lange vor dem 13.Jhd. schon Sperrpunkt im Besitz adliger Familien
zur Erhebung von Zöllen, erlebte im Mai des Jahres 1800 seine große
Stunde, als Napoleon, vom Gr.St.Bernhard ins Aostatal vorstoßend, die
Österreicher in Oberitalien überraschen wollte, doch in Bard so lange
aufgehalten wurde, daß er zur Schlacht von Marengo am 14. Juni fast nicht
seine Artillerie zur Verfügung gehabt hätte. Issogne, wie auch Verres
und Fenis, im Besitz der Herren von Challant, der bedeutendsten der 220
Adelsfamilien des Aostatals, aus einem Wohnturm des 12.Jhd. ab 1399 zur
gotischen Burg und ab 1480 zum repräsentativen Schloß im
Renaissancestil umgebaut. Hier gefielen uns der achteckige Brunnen, der sein
Wasser aus den verschlungenen schmiedeeisernen Ästen eines daraus
emporragenden Granalapfelbaums erhält, und die Inneneinrichtung mit dem
noch teilweise originalen Mobiliar und der reichen Freskendekoration. Verres,
dieser gewaltige kubische Wehrbau auf senkrechtem Felsen über der Schlucht
eines in der Tiefe dahinrauschenden Wildbachs, 1360-1390 als erster
Vorstoß der Challant ins Aostalal erbaut, war - und das drückt sich in der Architektur unmißverständlich aus - immer die Fluchtburg der Challant in Krisenzeiten, während Issogne ihre
Residenz darstellte. Fenis stellt den Übergang zwischen den beiden Burgen
dar. 1337 errichtet, bildet die Kernanlage ein unregelmäßiges
Fünfeck aus hochaufragenden Wehrmauern mit Schwalbenschwanzzinnen und
vorspringenden Türmen. Vom Innenhof der Kernburg mit seiner kleinen
Freitreppe aus fällt der Blick auf den Heiligen Georg beim Drachenkampf,
Christophorus und einen Zyklus berühmter Männer
Früh am 20.09. brachen wir zur Fahrt ins Valnontey auf. Der
rätselhafte römische Aquädukt von Pondel lag noch im Schatten,
als wir ihn zu Fuß überquerten, schaudernd vor dem 50 m tiefen
Abgrund unter uns, in dem donnernd und drohend ein Windbach toste; nur die
Grivola (3969 m) mit ihren atemberaubenden Steilflanken lag, ganz weit hinten
und fast ins Überirdische entrückt, im vollen Sonnenlicht. Wir
mußten die Frage, wozu wohl der ponte romano von Pondel gedient habe,
offen zurücklassen; als wir durch das enge Tal hochfahren, sehe ich aus
den Augenwinkeln ein Graffito an der Straßenwand aus Beton; "Silvia - ti amo e ti odio", - ob das Lebenserfahrung des Sprühers ist oder Catullreminiszenz?
Am Ende der Fahrstraße im Valnontey lassen wir die Kleinbusse auf 1666 m
stehen und brechen von dort zu einer zweitägigen Wanderung auf, die uns
über die Casolari di Herbetet (2435 m) auf das Bivacco Leonessa (2910 m)
und in einer sehr langen Querung zum Rifugio Vittorio Sella (2585 m)
führte.
Am folgenden Tag änderte sich das Wetter, doch trotz der
tiethängenden Wolken gelang es uns noch, zum Col de la Seigne im Val Veny
aufzusteigen, wo in 2516 m Höhe die Grenze zwischen Frankreich und Italien
verläuft.
Mehrere Stunden nehmen wir uns auf dem Rückweg Zeit, den
Ghiacciaio del Miage zu erforschen, der wie ein gigantisches, inmitten der
Bewegung erstarrtes Meer aus Eis und Steinen erscheint. Die anderen sind zum
ersten Mal in ihrem Leben auf einem - fast hätte ich gesagt: leibhaftigen - Gletscher. So legen wir sorgfältig das Kletterzeug an, nehmen die
Eispickel zur Hand; jetzt gilt es, die in der Vorbereitungsphase
durchgesprochenen und simulierten Verhaltensweisen in die Tat umzusetzen. So
vergeht, wie an all den vorangegangenen Tagen auch, die Zeit beim Schauen wie
im Fluge. Ganz unten hat der Gletscher einen hellgrünen See aufgestaut, in
dem Eisblöcke wie in der Arktis treiben. Einer von uns wagt es, da
hineinzuspringen, kurz unterzutauchen. Sein lakonischer Kommentar "ich habe
jetzt warm, während ihr anderen friert" trifft die Situation, so stelle
ich mir die alten Spartaner vor, und ich bewundere den Burschen. Wir verbringen
eine feuchte Nacht, und am nächsten Morgen regnet es endgültig. Noch
unentschlossen, wohin es gehen soll, fahren wir zunächst zurück nach
Courmayeur, wo wir uns neu verproviantieren und das alpine Museum Duca degli
Abruzzi besuchen, in dem neben der Geschichte des Montblanctunnels, neben
Fauna, Flora, Mineralien und Fossilien vor allem die Geschichte des
Bergsteigens im Montblancgebiet seit der Erstbesteigung durch Jacques Balmat
1786 dokumentiert ist, repräsentiert durch respektheischende
Führerpersönlichkeiten wie Croz, Ottoz, Guido Rey und viele andere
mehr. Auch ihre außereuropäischen Pioniertaten an Ruwenzori in
Ostairika, in Arktis und Antarktis und vor allem im Karakorum mit der
Erstbesteigung des K2 (8611 m), des zweithöchsten Gipfels der Erde, durch
Lacedelli und Compagnoni 1954 werden durch Fotos und Ausstellungsstücke
dem Betrachter vorgeführt. Was uns in Bann schlägt, sind diese
Gesichter, in die sich ebensolche Rinnen, Schluchten, Kamine und
Verschneidungen eingefurcht zu haben scheinen wie in die von ihnen mit
außerordentlicher Verwegenheit und Entschlossenheit bezwungenen Gipfel.
Und all dies vor so vielen Jahren mit der damaligen klobigen Ausrüstung
und ohne die Erleichterungen der Verkehrswege und der Kommunikationstechnik,
über die wir Heutigen verfügen. Als wir wieder in den
Schnürlregen hinaustreten, erfüllt jeden von uns tiefe Bewunderung
für diese Pioniere.
Das Musee regional dessciences naturelles auf dem Chateau de Saint Pierre
enthält eine sehr umfangreiche und durch Didaskalien wunderbar
erschlossene Sammlung von Tierpräparaten, Großdias, Mineralien, die
das Zusammenwirken von Klima, Herkunft und Stardortbedingungen der Flora und
Fauna sowie die Rekonstruktion mehrerer für das Aostatal typischer
Ambienti in großen Glaskästen vorführt. Auf besonderen Wunsch
der Schüler blieben wir hier viel länger als ursprünglich
vorgesehen; immer wieder mußte ich dem einen oder anderen die
italienischen Erklärungen übersetzen. Nach einer Nacht, die wir im
sturmumtosten Hotel auf der Paßhöhe des Grand St.Bernard
verbrachten, besichtigten wir das gegenüberliegende Hospiz und
ließen uns über seine Entstehung, ja über die Geschichte des
Passes überhaupt belehren. Die ältesten Reiseberichte bezeichnen den
Paß mit dem Namen Summus Poeninus, was wohl auf die gallische Bezeichnung
'Penn' für Paßhöhe zurückgeht. Erst im Mittelalter kam die
Benennung Mons Iovis, also Jupiterberg, auf. Als Sankt Bernhard wird der
Paß seit dem 12. oder 13. Jahrhundert geführt. Die Mengen keltischer
Münzen, die sich auf dem Paß gefunden haben, sind die ersten
geschichtlichen Zeugen für Benützung und Bedeutung dieses
Alpenübergangs. Seit dem Jahr 20v.Chr. von den Römern besetzt, seit
12 v. von einer Römerstraße überquert, die 47 n. unter Olaudius
mit Pflastersteinen belegt und mit Meilensteinen versehen wurde, wurde der
Paß zum Ort reicher Fundstücke, die von Geldstücken über
Statuetten und Motivtafeln bis zu Haus- und Tempelresten reichen. Barbareneinfälle in der Zeit der
Völkerwanderung waren der Beginn einer langen Epoche der Unsicherheit fur
die Reisenden, die erst die Herrschaft der Savoyer Ende des 10.Jhd. beendet.
Eine auf Legendenschreiber des 14./15.Jhd. zurückgehende
Überlieferung laßt Bernhard von Menthon am Iac d'Annecy in einer
Adelsfamilie geboren werden. Einer Verheiratung mit einer Adligen entzieht er
sich am Vorabend der Hochzeit. Er flieht nach Aosta, wo sein Verwandter Peter
Erzdiakon war. Von Predigten und Wundern ist in den Quellen die Rede, in Pavia
soll er mit Kaiser Heinrich zusammengetroffen sein, der im Begriff stand, Papst
Gregor abzusetzen und Rom zu zerstören, und vergeblich versucht haben, ihn
davon abzubringen. Kurz darauf, 1081 oder 1086, soll Bernhard gestorben sein.
In zahlreichen Urkunden wird die Gründung einer Kirche durch Bernhard auf
dem Jupiterberg erwähnt. Was das Hospiz betrifft, begnügte sich
Bernhard zuerst mit einem einfachen Haus mit Zellen für seine
Ordensgenossen; der erste Bau ist für 1125 erwahnt. Bernhard wurde 1123
vom Bischof von Novara heiliggesprochen. Am 20.8.1923 erklärt Pius XI. ihn
zum Schutzpatron der Bergsteiger.
Wir waren auf die Krypta, die Kirche, die meditative Atmosphäre dort nicht
gefaßt, die uns plötzlich eingehüllt hat, und so ist jeder in
Gedanken. Auch der Dauerregen trägt das Seine dazu bei, daß wir uns
nur langsam von diesem heute ganz einsamen Ort zu lösen vermögen und
die Kleinbusse nach Martigny hinuntergleiten lassen. Während der Abfahrt
vom Paß die Serpentinen hinunter muß ich zwar sehr aufmerksam sein,
weil es draußen nur noch Wasser gibt; so muß die Sintflut
angefangen haben! Doch überlege ich fieberhaft, was man bei diesem Wetter
noch anderes tun kann als schnurstracks nach Hause zurüchzufahren. Sollten
wir nach Chillon fahren am Genfer See, nach Lausanne? Oder ist das Wetter
vielleickt im Elsaß besser, wo wir die Burgen ansehen könnten,
Kaysersberg z.B., und die Humanistentibliothek in Schlettstadt (Selestat)? In
einem Cafe in Martigny versuchen wir, unsere Gedanken zu klären; Karten
werden studiert, schweren Herzens kommt der Beschluß zustande, durch die
Westschweiz nach Hause zu fahren. Dazu müssen wir ein Stück durch
Martigny fahren und dann links abbiegen. Doch ein gnädiger Gott führt
mir im ersten Fahrzeug die Hand; offenbar ist für mich noch etwas nicht
erledigt, jedenfalls biege ich irgendwo rechts ab, und dann sind wir auf der
Staatsstraße entlang der Rhone, die wir heute aufwärts fahren werden
bis es weiter nicht geht, bis zu ihrer Quelle nämlich. Die anderen nehmen
von dem, was sich in mir abspielt, gar keine Notiz; sie spielen Karten,
dösen, unterhalten sich. Bis zum Abend wird niemand fragen, wann denn
jetzt der Genfer See komme. Wir passieren Sion mit seinen beiden Burgen; dort
führt rechts der Weg nach Zinal hoch und ins Val d'Herence, wo die
über 200 m hohe Staumauer des Lac des Dix den Talschluß bildet.
Später geht es links nach Leukerbad, wo schon die Römer Thermen
angelegt hatten; von dort würde man sehr steil, 800 Höhenmeter hoch
auf einem sehr alten, in den Fels gehauenen Pfad auf den Gemmipaß, dort
oben in 2300 m Höhe am Daubensee entlang unter dem Balmhorn und dem Altels
durch auf der anderen Seite hinunter nach Kandersteg (1400 m) im Berner
Oberland hinübergehen können. Während ich mich auf die
Straße konzentriere, gehe ich in Gedanken all diese Touren, fühle
mich physisch da hineinversetzt und höre gleichzeitig und mit nicht
geringerer Aufmerksamkeit der Musik zu, die von den mitgebrachten Kassetten,
dicht wie der Regen, auf uns herabtropft, aber überhaupt nicht unangenehm,
im Gegenteil! Der Sturm, der außen um uns herum tobt und den Wagen
durchrüttelt, so daß ich das Steuer wirklich sehr fest halten
muß, dieser Sturm tobt auch in meinem Innern. Wir hören nämlich
die Beatles, die ich vor 25 Jahren etwa, im Alter wie die Jungen und
Mädchen unseres Teams jetzt, auch gehört habe, und mit derselben
Erregbarkeit und mit derselben Neigung zur Identifikation wie sie heute. Ich
gebe mir die größte Mühe, die Tränen, die in mir
aufsteigen, in mir zu behalten, nicht in äußere Erschntterung
umschlagen zu lassen, als sie mitsingen von dem "Yellow submarine", von "Obla
di obla da, life goes on...", von "Get back, Jojo" und von "Let it be", oder
Simon und Garfunkel mit "E1 condor pasa" und "Bridge over troubled water". Mich
trifft blitzartig die Erkenntnis, auf dieser Straße, in dieser Musik, in
diesem Regen trifft sie mich unverhofft und schockierend, das sei doch mein
vorbeifließendes Leben, und das Leben, das seien jetzt diese
Jugendlichen, und auf eine erschreckende Weise begegne ich dem Tod, der ja,
nach Seneca, nicht in der Zukunft erst kommt, der vielmehr im schon hinter uns
liegenden Leben besteht. Plötzlich, mitten in dieser Gegenwart, auf der
Nationalstraße das Rhonetal aufwärts, gegen diesen
undurchdringlichen Regen anfahrend, von diesen Liedern umspült, umgeben
von diesen warmen und optimistisch-lebensvollen Menschen, fühle ich mich, als hätte ich gelebt, als sei mein
früheres Leben zuende und als lebte ich zum zweitenmal, doch vom Jenseits
her, ohne in dieses Leben noch eingreifen zu können. Daran ändert
auch die Tatsache nichts, daß ich, höchst real, diesen Bus steuere,
und auch jene Beobachtung nicht, daß niemand außer mir selbst
diesen Eindruck von mir hat. Ich bin auf einer "Magical mystery tour", auf der
sich weite Kreise schließen, die vor 25, 30 Jahren geschlagen, immer
offen geblieben waren. Und im selben Moment, da sich ihre Enden berühren,
begegnen sich in meiner inneren Wahrnehmung Leben und Tod, kaum auszuhaltender
Schmerz, Trauer, Wut - und zur selben Zeit ein ungekanntes, nicht für möglich gehaltenes
Glücksgefühl. Ihr Beifall nach jedem Lied rührt mich zutiefst.
Im besten Sinne griechischer Lebensauffassung erleben wir, wie Musik unsere
Seelen durchwaltet, Musik, die so subtil und unwiderstehlich jede Blockierung
durch den Verstand unterläuft und durchdringt und unmittelbar die
Gefühle bloßlegt, die Seele in Schwingungen versetzt. So
unaufhaltsam und jede Gegenwehr ausschaltend, daß Platon ja bestimmte
Arten von Musik aus seinem Idealstaat verbannt. Wegen des unvermindert stark
herniederfahrenden Regens halten wir erst wieder in Raron, kurz vor Visp, und
steigen zu der Granitkanzel hinauf, auf der sich, das Rhonetal
überschauend, das Kirchlein erhebt an dessen Außenmauer unscheinbar
und still Rilkes Grab liegt. Dunkel und klatschnaß lesen wir dem
ockerfarbenen mannshohen Stein die Rätselverse, die er selbst zu seinem
Epitaph bestimmt hat:
"Rose, oh reiner Widerspruch, Lust
niemandes Schlaf zu sein unter soviel
Lidern"
Seit dem 2.1.1927 liegt Rilke dort - und ist im Deutschunterricht
längst vergessen; von den Schülern kannte ihn keiner mehr, "Rilke
oder Wilke, oder wie der heißt". Ich wußte seit 20 Jahren,
daß er dort oben liegt, aber ich war nie dort; jetzt, heute, in diesem
Weltuntergang, finde ich den , den richtigen Zeitpunkt, an dem alles
zusammenstimmt, an diesen Ort der Kraft zu gehen. uns seiner Aura
auszusetzen. Ich weiß, daß auch in ihnen sich ein Keim gebildet
hat, ein , eine "Zeugung im Schönen" vollzogen hat, um mit Platon zu
sprechen.
Wir gehören zu den letzten, die in Brig noch die Rhone überqueren an
diesem Tag, als ihre unbändigen Fluten schon braunwallend dicht unter den
Brückenbögen hindurchschießen. Nur wenig später - doch das werden wir erst zwei Tage danach erfahren - wird Brig von Schlammfluten verwüstet; werden die Straßen
unpassierbar sein. Im Schweizer Fernsehen sehe ich Interviews mit echten
Walliser Mannsbildern, die vielleicht ihr Lebtag noch nicht geweint haben: hier
stehen ihnen die Tränen in den Augen, und die Stimme versagt ihnen
angesichts dieser vernichtenden Übermacht der Natur, und hier leuchtet mir
auch der Begriff "zuschanden machen", bezogen auf menschliche Hervorbringungen,
ein. In Heidelberg gelten wir seit diesen Katastrophennachrichten als
vermißt; besorgte Eltern rufen die Schulleitung immer wieder an, aber die
kann natürlich von nichts wissen und gibt schließlich die Parole
aus, in der Schweiz seien alle Telefonleitungen, unterbrochen. Wir selbst ahnen
von diesen Ängsten nichts. Manche von uns haben ja auch zu Hause
angerufen, erreichen aber wohl auch keinen.
Auf der Fahrt über den Furkapaß halten wir noch kurz am
Rhonegletscher; es ist später Nachmittag und in 2400m Höhe
empfindlich kalt; rasch werden wir klamm, machen aber noch ein paar
Gruppenfotos: hier, keine 100m von uns entiernt, entspringt dieser Rhodanus, le
Rhône, der bei Caesar im "Bellum Gallicum" eine so große Rolle
spielt, dieser Fluß, den schon Hannibal, aus Spanien herbeiziehend, vor
seiner Alpenüberquerung, hatte überschreiten müssen, ohne
daß man hat bis heute herausfinden können wo. Auf der Weiterfahrt in
Richtung Julierpaß wir wollen heute noch ins Engadin hinüber, hoffen
dort auf besseres
Wetter, müssen jedoch zuerst noch den Oberalppaß überwinden - diskutieren wir die Möglichkeit, einmal eine Expedition zu unternehmen,
die an der Rhone in ihrer ganzen Länge entlangführte, von der Quelle
am Rhonegletscher bis zu ihrer Mündung westlich von Marseille ins
Mittelmeer. Es ist schon stockdunkel, als wir vom Julier herunter nach
Silvaplana kommen. Hier am Julier - wie auch am weiter westlich gelegenen Septimerpaß - hat man römische Münzen, Wagenspuren, ja sogar Römersäulen
gefunden, die beweisen, daß seit der Römerzeit diese Pässe
wichtige Nord - Süd - Handelsverbindungen bildeten. Im Mittelalter verfielen die Wege; erst zu Beginn
des 19.Jhd. wurden sie wieder instandgesetzt. Während der Septimer aber
nur für Fußwanderer passierbar ist, gehört der Julier zu den
ganzjährig befahrbaren Alpenübergängen.
Am nächsten Morgen hat der Himmel schmale blaue Gürtel über ein
weißes Gewand gezogen. Gemeinsam gehen wir zu Segantinis Grab, einen
Steinwurf nur von der Paßhöhe des Malojapasses entfernt. Giovanni
Segantini, geboren am 15.1.1858 in Arco am Gardasee, nach schwerer Kindheit,
Akademiejahren in Mailand und seinem Rückzug aus dem etablierten
Kunstbetrieb nach Briansa schließlich im Engadin angelangt, in Savognin
zuerst, dann Maloja, wo man heute noch sein Chalet besichtigen kann, gilt als
der Maler des Engadin. Zu seinen bedeutendsten Werken
gehören "Das Pflügen", "Kühe an der Tränke" und das
Triptychon "Werden - Sein - Vergehen" ("Trittico della natura"), riesige Gemälde, die für die
Weltausstellung 1900 in Paris bestimmt waren, durch Segantinis Tod jedoch nicht
fertiggestellt wurden. Farbe und Licht sind seine Elemente, die er mit reinen,
unvermischten Farbe. gestaltet, dabei die Effekte der Komplementärfarben
nutzend. Er geht hoch hinauf in die Berge, um in der Natur zu malen, was
riesige Transportprobleme schafft (die Tafeln des Triptychons haben ein Format
von 190 x 322 cm). Er stirbt dort oben auf dem Schafberg (2700m) bei Pontresina
an einer akuten Bauchfellentzündung am 28.9.1899. Um die Aufhellung, die
erste seit Tagen, auszunutzen, beschließen wir, den Besuch im
Segantinimuseum in S.Moritz auf den nächsten Tag zu verschieben, und gehen
rasch entschlossen los: vom Malojapaß an den uralten Bauernhäusern
von Salecina vorüber steigen wir unterm Piz Aela zum Lai da Cavloc auf.
Die Wege sind feucht, ach was, triefen, fliessen einem unter den
Füßen weg. Stark und unaufhaltsam stürzen in freiem Fall die
Wasser von den Westabhängen des Piz de la Hargna (3159m) herab. Auch die
sonst still dahinfließende Orlegna schäumt heute weiß tief
unter uns vorüber. Durch Lärchenmischwald zieht uns das Massiv des
Piz dei Rossi (3026m) immer höher hinauf, bis wir auf einer Wegbiegung
stehen: Plan Canin. Links verläuft, heute eher weglos, der Pfad in
Richtung Murettopaß, der nach Chiareggio und Chiesa im Val Malenco
hinabführt. Der Passo del Muretto wurde in der Vergangenheit von
Säumern, Schmugglern, aber auch von den italienischen Arbeitern
frequentiert, die nach Graubünden herüberkamen. Rechts zieht sich von Pian
Canin der gut bezeichnete und vielbegangene Weg zum Fornogletscher empor, der
im unteren Teil das Blockgelände des Vadret del Forno benutzt. Wir steigen
ohne zu zögern bis zu dem Punkt hinauf, an dem wir die Eisausrüstung
anlegen müssen. Erst hier verschnaufen wir , essen etwas. Der Dauerregen
der letzten Tage hat das Eis des Gletschers haltlos und blank ausgewaschen. Wir
müssen wirklich all unser Gleichgewichtsgefühl in die Waagschale
werfen. Zwar würde uns ein Sturz nicht gleich in eine der gut sichtbaren
Spalten schlittern lassen, unangenehm aber wäre er in jedem Falle: an den
Schneiden der ins Eis eingefrorenen Steine würde man sich aufritzen, und
die in tiefen Runsen ins Eis eingefrästen Bäche hätten einen im
Nu durchnäßt. Allesamt schaffen wir es, den Gletscher ohne zu
stürzen zu traversieren, Da stellt sich uns auf der anderen Seite ein
neues, unerwartetes Hindernis entgegen: die Unwetter haben den
Hüttenzugang zur Capanna del Forno SAG (2574m), der mit Holzbalken und
Eisenträgern, wie man zuvor den Eindruck hatte haben können,
"bombenfest" in dem von der Hütte steil zum Gletscher abfallenden Grat
verankert war, ganz einfach weggerissen. So balancieren wir weglos und selbst
großen Felsblöcken mißtrauend aufwärts. All unsere
Konzentration liegt jetzt in unseren Fußspitzen; jede Beobachtung, die
wir mit den Augen machen, scheint direkt in die Füße zu
fließen; es ist, als seien alle anderen Körperfunktionen
ausgeschaltet. Erst auf der Hütte, auf der wir heute die einzigen sind,
löst sich unsere Spannung. Das Hüttenwirtsehepaar ist
unverständlicherweise grantig, als hätten wir sie bei etwas
gestört; wir können aber nicht herausfinden, was das ist, so bleiben
wir unter uns. Mich bedrückt diese Situation, mir gefällt es, von den
Menschen, die hier oben leben, in ihrer Sprache und Ausdrucksweise etwas
über ihr Leben und die Situation hier heroben zu erfahren. Als wir die
Hütte wieder verlassen, ist die Welt völlig in graue und weiße
Töne getaucht. Es schneit, und ich finde die Stimmung zauberhaft, bis ich
merke, daß die lautlos heranfliegenden Schneeflocken schwer auf uns
klebenbleiben. Wir dürfen nun nicht zögern, auf dem Gletscher unten
wäre es fatal, die Sicht zu verlieren. Um der Gefahr des Ausgleitens, die
beim Abwärtsgehen um ein Vielfaches größer ist als beim
Hochsteigen, zu entgehen, queren wir den Gletscher rechtwinklig und steigen auf
der Gegenseite über die Randmoräne ab; das erspart uns die
Komplikation, den gewaltig angeschwollen aus dem Gletschertor austretenden
Gletscherbach zu überqueren. Auf dem Gletscher gehen wir gemeinsam, beim
Übergang ins Blockgelände, als der Weg nicht mehr zu verfehlen ist,
geht jeder für sich, in seinem Rhythmus, in seiner Geschwindigkeit.
Inzwischen regnet es wieder durchgehend. Da mache ich einen Fehler:
herausgefordert durch herablassende Reden der übermütigen Jungen,
("Gehen Sie nur vor, wir holen Sie ja doch ein!"), renne ich förmlich die
Wege hinab, dabei nur immer für wenige Sekundenbruchteile auf den
glattgeregneten Steinen balancierend. Und trotz aller Erfahrung passiert es:
ich komme aus dem Rhythmus, schneller als ich es merke, liege ich auch schon,
rücklings zu Boden geworfen. Mühsam versuche ich, mich aufzurichten,
doch als ich die Finger aufstütze, um mich vom Boden hochzudrücken,
durchzuckt mich ein Blitz, nein, eigentlich sind es zwei, und mir ist im selben
Moment klar, wie teuer ich diese unnötige Herausforderung bezahlt habe:
ich habe mir beide Daumen verstaucht; durch den so schwungvollen Sturz sind sie
nach außen umgeknickt worden. Und obwohl ich mir den Schmerz
verbeiße, ein Stück Eis zum Kühlen in die Hand nehme und
weiterhaste, holen sie mich natürlich kurz vor dem Malojapaß doch
noch ein.
Auch unser letzter Tag, ein Sonntag, sieht uns früh aktiv. Es ist mir
gelungen, den Kustoden des Nietzschehauses in Sils-Maria dazu zu bewegen, uns schon um 9deg.deg.Uhr einzulassen (und nicht erst um
15deg.deg.Uhr), denn wir müssen heute noch nach Heidelberg
zurückfahren. Friedrich Nietzsche, den Namen haben einige von ihnen schon
gehört, verbinden gleichwohl nichts Konkreteres als die geheimnisvolle
Chiffre 'Philosoph' mit ihm. So gebe ich ihnen auf der Fahrt von Maloia am
blaugekräuselten Auge des Silser Sees entlang eine erste Einführung,
rede von seiner Schulzeit in Schulpiorta, dieser Kaderschmiede großer
Geister, seiner frühen Professur für klass.Philologie in Basel,
seiner Bekanntschaft mit Richard Wagner, dem Einfluß Schopenhauers auf
sein Denken, von der "Geburt der Tragödie", seiner Kulturkritik, nach der
Aufgabe der Baseler Professur seinem Pendeln zwischen verschiedenen
Aufenthaltsorten in Italien und der Schweiz, seiner Bekanntschaft mit Lou
Andreas - Salome (die im übrigen auch Rilke verehrte), dann dem Wechsel zwischen
Sils und Turin seit 1881, der Entstehung seiner letzten Werke "Die
fröhliche Wissenschaft", dem "Zarathustra", von
"Götzendämmerung" und "Antichrist", schließlich von seinem Zusammenbruch Januar 1889 in Turin und seinem Tod am 25.8.1900.
Als wir, so eingestimmt, vor dem Haus stehen, sind alle etwas betreten, um
nicht zu sagen enttäuscht, hatten sie sich doch für einen solchen
Titanen etwas Größeres, Repräsentativeres vorgestellt. Ich
mache noch rasch ein Gruppenphoto, da geht auch schon die Tür auf man hat
uns erwartet , und für die nächsten zwei Stunden vergraben und vertiefen sich alle
in die Dokumente, Manuskripte Erinnerungsstücke und Wandtafeln, die die
Nietzsche-Anwesenheit und NietzscheRezeption durch berühmte Philosophen und
Schriftsteller belegen. Von Adorno bis Wagner reicht alphabetisch diese Reihe,
historisch von seinen Freunden, allen voran Overbeck, bis auf den heutigen Tag -und sie wird nie abzuschließen sein; vielleicht wird auch der eine oder
die andere von uns eine Entwicklung nehmen, die sie zum Teilnehmer eines
Nietzsche - Kolloquiums in Sils oder zum Autoren eines Buches über Nietzsche machen
wird. Obwohl ich schon zweimal hiergewesen bin, schlägt mich aufs neue die
Schlichtheit etwa seiner niedrigen Stube mit der Waschschüssel auf dem
Tisch unterm Fenster in Bann, erinnert mich an mein erstes Studentenzimmer in
Heidelberg. Wahrscheinlich hat es auch hier in Sils bei Frost Eißblumen
an den Fensterscheiben gehabt, waren auch hier die Nächte lausig kalt.
Die Empfindsameren unter uns sind betroffen von dem bitteren Ende des
Philosophen. In der holzgetäfelten Verkaufsstube stehen Wir noch lange,
lesen uns fest in der Rowohltmonographie oder in Reclams Nietzschebrevier oder
doch lieber gleich in einem Band der Gesamtausgabe von Colli und Montinari. Ein
Mädchen bringt ihren Eindruck von Nietzsche auf einen Begriff, der ihm in
seiner Prägnanz, mit der er die eine Seite seines Denkens, ich meine die
dionysische, faßt, unbedingt gefallen hätte. Sie sagt:"Nietzsche ist
geil!"
Segaptini gilt unser letzter Besuch. In der Rotunde seines Museums hoch
über S.Moritz treten wir seinen bewegenden Zeichnungen und Gemälden
Aug in Auge gegenüber, stellen uns dem forschenden - fordernden Blick seiner Selbstbildnisse, lassen den Kreislauf von Werden - Sein
- Vergehen in all seiner Kreatürlichkeit auf uns wirken. Und das Wunder
geschieht: niemand von uns findet wovor ich gebangt hatte - seine Bilder kitschig, auf seine Weise ist jeder doch ergriffen, vielleicht
auch weil wir selbst ja in den letzten Tagen die Natur hautnah und in ihrer
einschüchternd - überwältigenden Kraft erfahren hatten. So schließt sich ein
weiterer Kreis, der in der frühen, nebligen, unentschiedenen Morgenstunde
auf den Äckern von Kaiseraugst begonnen hatte, nun hier vor Segantinis
Museum.
Als wir abfahren, sind wir nicht traurig, auch wenn es noch eine Unendlichkeit
zu sehen gäbe, auch nicht übersättigt trotz der vielen
Eindrücke. Wieder haben wir das Gefühl, die richtige Mitte getroffen
zu haben, im wahrsten Sinne des Wortes im Auge des Taifuns gewesen zu sein,
doch die Ruhe bewahrt zu haben. Am Ende erfüllt uns alle ein stiller Stolz
auf diese gemeinsamen Tage. Als ich jeden einzeln spätabends zu Hause
abliefere, sagen sie mir zum Abschied: "wenn Sie wieder mal etwas
Ähnliches vorhaben, wir slnd sofort wieder dabei!"
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